Aktuelles: 25. August 2025
„Wir brauchen eine neue Kultur der Freien Zeit“, sagt der Philosoph Gregor Ritschel, „die uns einen Ausweg bietet aus dem Rhythmus von Lohnarbeit und Konsum – und auch der Erschöpfung.“ Denn: Freie Zeit sei grundlegend für uns als soziale und politische Wesen, aber viele Menschen sind für soziales, politisches und auch ökologisches Engagement viel zu erschöpft.
Die Idee der Muße spielt in der Philosophie seit der Antike bis in die Moderne eine wichtige Rolle. Im Zeitalter des Kapitalismus wurde das allerdings zunehmend konterkariert. Erst die Arbeiterkämpfe im 19. Jahrhundert setzten dem Grenzen, so dass sich das heute gängige Modell des 8-Stunden-Arbeitstages durchsetzte. Im 21. Jahrhundert verschwinden die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Beruflichem und Privatem... seit der Pandemie für viele Menschen nochmal verstärkt.
„Wir arbeiten selbst dann, wenn wir uns zu entspannen glauben“, sagt Ritschel weiter. In seinem Buch aus dem Jahr 2021 „Freie Zeit. Eine politische Idee von der Antike bis zur Digitalisierung“ fordert er eine neue Kultur der Freien Zeit und fragt: Wie viel freie Zeit haben wir? Wie finden wir Muße? Was machen wir mit unserer freien Zeit?
Um überhaupt die Grundlage für Muße zu schaffen und damit verbunden auch für persönliches Engagement jedes Einzelnen, braucht es aus meiner Sicht nicht nur weniger Arbeitszeit und mehr freie Zeit, sondern eine andere Arbeitskultur, die nicht so viele Menschen in die abendliche Erschöpfung führt – ja, einen anderen, am besten gemeinsam etablierten und gelebten Arbeitsmodus, der gesund hält und zufrieden macht. Davon bin fest überzeugt.
Für mich ist dabei die zentrale Frage, ob Erholungszeit fester und integrierter Bestandteil von Arbeitszeit ist bzw. sein darf, d.h. ob es wirklich legitim ist, dem menschlichen Bedürfnis nach Erholung auch im Arbeitsalltag zu folgen, damit die eigene Kraft am Ende des Arbeitstages nicht vollkommen verbraucht ist.
Unser Leben und Arbeiten ist viel zu komplex und schnell geworden, um weiter dem Konzept folgen zu können, der Feierabend, die Wochenenden und der Jahresurlaub seien zur persönlichen Erholung ausreichend. Das geht nicht mehr, mal abgesehen davon, dass für viele Berufstätige die „erste Arbeit“ ja nahtlos in den „zweiten Job“ übergeht, sei es durch die Betreuung von Kindern oder die Pflege von Eltern. Und auch die gesellschaftlichen Krisen und globalen Herausforderungen erfordern von uns allen, dass wir neben unserer Lohnarbeit noch Kraft haben, um uns gesellschaftlich engagieren zu können.
Menschsein, auch im Arbeitskontext - ist der rote Faden meiner Arbeit. In der Konsequenz heißt das, dass wir natürliche Prinzipien achten müssen, um gesund und in unserer Kraft zu bleiben. Denn sie machen uns Menschen aus!
Ein natürliches Prinzip ist der regelmäßige Wechsel von Anspannung und Entspannung – von Einsatz und Distanzierung. Nur so funktioniert wirksame Erholung! Wenn es uns gelingt, körperlich zu entspannen und mental abzuschalten, dann ist eine Pause wirklich erholsam, um eigene Ressourcen nicht nur im Schlaf, sondern auch tagsüber wieder aufbauen zu können.
Ein weiteres natürliches Prinzip besagt: Unser Gehirn ist nicht multitaskingfähig! Singletasking in das eigene Leben zu holen – d.h. Aufmerksamkeit zu lenken und zu schenken, indem wir uns ganz widmen, einer Tätigkeit oder einem Menschen, ist nicht nur eine Notfallstrategie bei Überlastung, sondern es macht uns zufrieden und ist gleichzeitig eine einfache Erholungspause für unser strapaziertes Gehirn.
Wenn wir diesen beiden Prinzipien auch im Arbeitsalltag folgen, behalten wir unsere Kraft und Energie, um Muße-Zeiten überhaupt erst genießen zu können – wofür auch immer wir sie nutzen: ob für persönliches Engagement oder schlichtweg für echtes Nichts-Tun. "Philosophisch betrachtet bleibt die Frage offen, ob es auch ein Recht auf Faulheit gibt?"
Spannend, wohin mich die Neugier in diesem Monat getragen hat... von der Beschäftigung mit der Frage nach dem Sinn über die Frage, wie viel Geld ich eigentlich wirklich verdienen muss bzw. will bis hin zu dem Thema Muße-Zeit: Ob ich sie habe, mir nehme und was ich damit mache. In diesem Monat April habe ich mir viel bewusste Muße-Zeit gegönnt... in meinem kleinen Gemüsegarten, mit meinen Kindern und unseren ukrainischen Gästen, zum Lesen und Hören... im echten Garnichts-Tun bin auch ich noch eher Lehrling als Meisterin.
Gerne möchte ich zum "Thema Sinn und Zeit" noch ein weiteres Buch empfehlen - das Neueste von Vivian Dittmar, deren Arbeit zum Umgang mit den fünf Grundgefühlen ich sehr schätze: „Echter Wohlstand. Warum sich die Investition in inneren Reichtum lohnt.“ Es ist ein Weckruf für eine echte Wohlstandsgesellschaft und für das, was im Leben wirklich zählt... in einer Gesellschaft, in der Wohlstand fast ausschließlich materiell definiert wird. „Konsum aktiviert zwar unser Belohnungssystem, aber wirklich reich macht er uns nicht.“ Vivian Ditmmar skizziert ein Leben, das in einer völlig anderen Weise reich ist, z.B. auch reich an Zeit – und zeigt, dass „ein gutes Leben nicht im Widerspruch zu einem notwendigen ökosozialen Wandel steht, sondern im Gegenteil dadurch erst ermöglicht wird.“
Ihre & eure
Carmen Nitka
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Neben der persönlichen Beschäftigung mit meinen oben skizzierten "April"-Themen ist der Krieg in der Ukraine nach wie vor prägendes Thema in meinem Alltag. Nachdem die Eltern meiner ukrainischen Freundin Anfang des Monats nach ihrer doch noch geglückten Flucht gut in Bonn angekommen sind und meine Bemühungen zur Bewilligung von sozialen Hilfen für "unsere" ukrainische Familie endlich erfolgreich waren, ist eine der beiden Frauen, die bei uns im Haus lebt, unverhofft nachhause gereist, wo sie nach drei Tagen Zugfahrt kurz vor dem orthodoxen Osterfest gut angekommen ist - in ihrer Heimat und bei ihrem Mann. Uns alle hat diese Entscheidung verstört und besorgt, da sie freiwillig in den Süden der Ukraine zurückgekehrt ist. Inzwischen denke ich, dass es auch selbst in dieser Hinsicht keine richtigen oder falschen Entscheidungen gibt - vielmehr nur Entscheidungen, die aus dem Herzen kommen. Das Vermissen war stärker als ihr Bedürfnis nach Sicherheit...
Bewegt hat mich Anfang des Monats außerdem das neue Video von Pink Floyd zu dem Lied Hey Hey Rise Up gemeinsam mit dem ukrainischen Sänger Andriy Khlyvnyuk von Boombox - nicht nur wegen der berührenden Bilder und des tollen Gitarrensolos. Am 7.4.2022 veröffentlicht ist es der erste Song, den meine Jugendband seit 1994 wieder gemeinsam aufgenommen hat - aus Solidarität mit der Ukraine und zur Unterstützung ihres Widerstandes.
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